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Rübenschnaps und Kaffee aus Zichorie

Mit dem 8. Mai 1945 begann die Stunde Null, das Leben nach dem Krieg und der Wiederaufbau. Es folgte das, was viele Menschen damals als „dei leipe Tied“ bezeichneten.

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„Dei Leipe Tied“: Auch in Bösel, hier eine Ansicht aus den 50er Jahren, gab es nach dem 2. Weltkrieg Schwarzbrenner, die aus Zuckerrüben, Kartoffeln, Getreide oder Früchten Schnaps machten. Der Anspruch an das Ergebnis war niedrig, auf die Wirkung kam es an.   Foto: Archiv Pille

„Dei Leipe Tied“: Auch in Bösel, hier eine Ansicht aus den 50er Jahren, gab es nach dem 2. Weltkrieg Schwarzbrenner, die aus Zuckerrüben, Kartoffeln, Getreide oder Früchten Schnaps machten. Der Anspruch an das Ergebnis war niedrig, auf die Wirkung kam es an.   Foto: Archiv Pille

Das Kriegsende 1945 erlebten die Deutschen als Sturz ins Bodenlose. Es folgte das, was viele Menschen damals als „dei leipe Tied“ bezeichneten, die Hungerjahre zwischen Hitler und Bundesrepublik. Von der Zeit, die auf den Krieg folgte, von dieser Null-Komma-null-Zeit mit Rübenschnaps und Muckefuck haben die Zeitgenossen immer gerne erzählt, denn sie war auch die Weichenstellung für das Wirtschaftswunder nach dem verlorenen Krieg.

Ob Früchte, Getreide, Kräuter, Kartoffeln oder Zuckerrohr, der Mensch hat damals auf der Suche nach dem „Aqua vitae“ quer durch die Botanik gebrannt und destilliert, was nur irgendwie sinnvoll erschien. Schwarz natürlich. Man wollte wieder feiern, aber eben nicht ohne Alkohol. Am beliebtesten waren Zuckerrüben. Und es war nicht nur der Reiz des Verbotenen, der die Menschen als Schnapsbrenner im dunklen Keller tätig werden ließ.

Unangenehme Nebenerscheinungen 

Hier wurde der Brand nach geheimen Rezepten angesetzt, Angesetzt, überliefert von alters her, mit Hefe, wohlgehütet, damit er ja nicht „umkippt“ und zu Essig verkommt. Alsdann wurde er gebrannt in der alten Remise oder im Geräteschuppen, aber auf jeden Fall verborgen vor den allzu neugierigen Augen des Dorfschandarms.

Unangenehme Nebenerscheinungen, wie das hohe Risiko, erwischt zu werden, oder die Tatsache, dass durch Überdruck der Deckel wegfliegt, erhöhte offenbar den Reiz des Schwarzbrennens. Der Anspruch an den Geschmack des Gesöffs war in der trockenen Zeit niedrig, auf die Wirkung kam es an: „Hei schmecket nix, hei rück nich gaut, aober hei deit et“. Augenscheinlich aber war er gut genug, um als Währung zu gelten: Als Schalke 04 Anfang 1946 gegen Tutonia Uelzen antrat, gab es Rübenschnaps als Bezahlung. Und Speck.

Muckefuck: Lindes Kaffee-Ersatz-Mischung aus Zichorie war die Alternative zu selbst gerösteten Bucheckern, Kastanien oder Eicheln.   Foto: Archiv PilleMuckefuck: Lindes Kaffee-Ersatz-Mischung aus Zichorie war die Alternative zu selbst gerösteten Bucheckern, Kastanien oder Eicheln.   Foto: Archiv Pille

Gleichzeitig rösteten sich die Leute auf der Suche nach einem Bohnenkaffee-Ersatz ebenfalls quer durch die Botanik: Kakaoschalen, Bucheckern, Kastanien, Löwenzahn, Erdmandeln, Quecken, Lupinen und Vogelbeeren kamen zu kulinarischen Ehren. Runkelrüben mussten herhalten, Gerste oder Eicheln. Doch da war dann noch der „Muckefuck“.

Wenn nachmittags gegen drei der Rücken vom Kartoffelsuchen hinter dem pferdegezogenen Kartoffelroder schmerzte, kam die Vesper gerade richtig. Es gab selbst gebackenen Stuten mit Mettwurst, zugedeckt mit einer Scheibe Schwarzbrot. Dazwischen mitunter: „gute Butter“. Und dazu gab es „Linde‘s Kaffee-Ersatz-Mischung“, Muckefuck-Zichorie-Kaffee, in Deutschland oft auch „Deutscher Kaffee“ genannt, eine elegante Umschreibung für Ersatzkaffee.

Aus „mocca faux“ wurde der „Muckefuck“

Zichorie ist nichts anderes als die „Gemeine Wegwarte“. In Frankreich hieß das Zichorie-Gebräu „mocca faux“, falscher Mokka. Die Berliner sollen es gewesen sein, die diesen Begriff zu „Muckefuck“ verballhornten.

In der so genannten Kaffeekrise 1976 in der DDR versuchte man einen Kaffeemix, bestehend aus Bohnenkaffee mit einem hohen Anteil aus Ersatzkaffee, heimisch zu machen, im Volksmund „Erichs Krönung“ genannt. Im Naturkostladen haben geröstete Körner heute indes eine treue Fangemeinde, denn sie sind für den Magen bekömmlicher und frei vom Aufputschmittel Koffein. Muckefuck hat die Zeit überlebt, der Rübenschnaps nicht.

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